Seit Jahresbeginn hat sich in NRW die Zahl der Tafel-Kunden fast verdoppelt
Neuss - Lebensmittel im großen Stil vor der Mülldeponie zu retten und sie Bedürftigen zu geben – das sind die Ziele der gemeinnützigen Tafeln, und immer mehr Menschen sind auf diese Einrichtungen angewiesen. Doch die Lebensmittelspenden sind nicht mehr so üppig wie noch vor Monaten.
„Die Energiekrise mit ihren Preissteigerungen trifft natürlich auch die Händler. Und wenn sie früher Waren mit ablaufendem Haltbarkeitsdatum an die Tafeln abgegeben haben, versuchen sie jetzt oft, die Produkte mit drastischen Preissenkungen doch noch zu verkaufen“, sagt Evi Kannemann. Die 61-Jährige ist kommissarische Vorsitzende des Landesverbandes „Tafel Nordrhein-Westfalen“ in Neuss. Der ehrenamtlich arbeitende Verband unterstützt die Tafeln in Nordrhein-Westfalen durch die Akquise, Koordinierung und Logistik großer Spenden, die sattelschlepperweise von einigen Sponsoren aus der Lebensmittelindustrie zu den sieben Verteilerzentren in NRW kommen. Außerdem vertritt der Landesverband die Tafeln durch Lobbyarbeit in der Landeshauptstadt. Die 172 Tafeln in NRW betreiben etwa 500 Ausgabestellen und sind unterschiedlich organisiert „Eine Hälfte wird von Wohlfahrtsorganisationen wie der Diakonie, der Caritas oder der AWO betrieben, die andere von Ehrenamtlern in der Form von Vereinen“, sagt Hartwig Szymiczek (60), Schatzmeister beim Verein „Tafel Nordrhein-Westfalen“. Landesweit engagieren sich 12.600 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. „Vor allem Frauen ab 60“, sagt Evi Kannemann. „Wie anderen Organisationen fehlt auch uns der Nachwuchs.“
Die Freiwilligen haben mehr als genug zu tun und keine Zeit, auch noch Statistiken zu führen. Aber in Neuss geht man davon aus, dass die Tafeln in NRW inzwischen regelmäßig etwa 500.000 Menschen unterstützen – fast doppelt so viele wie noch zu Jahresbeginn. „Die meisten von ihnen kämen sonst nicht über die Runden“, sagt Sprecherin Petra Jung (63).
Landesweit engagieren sich 12.600 ehrenamtliche Helfer
Einen Tafel-Verein zu betreiben sei eine enorme organisatorische Herausforderung, nicht nur was die Personalplanung der Ehrenamtlichen angehe, sagt die Sprecherin. „Die Lebensmittel müssen aus den Läden abgeholt werden, wobei der Handel die Zeiten vorgibt. Das kann auch schonmal ganz früh morgens sein. Trotzdem müssen Touren ökonomisch geplant werden, damit wir nicht zu viel Sprit verfahren.“ Anschließend werde die Ware ausgeladen, kontrolliert und Verdorbenes aussortiert. Milchprodukte würden in Kühlschränke oder Kühlräume gepackt, Gefrierkost in Truhen, der Rest komme in Regale.
Wann und wie die Lebensmittel ausgegeben würden, entscheide jede Tafel selbst. „Das hängt auch von der Zahl der Freiwilligen und der örtlichen Gegebenheiten ab. Manche können nur einmal in der Woche öffnen und räumen dann Tische und Kühltruhen ins Gemeindehaus. Andere haben eigene Räume und öffnen an sechs Tagen“, sagt Evi Kannemann. Auch die Ausgabe unterscheide sich, ergänzt Petra Jung: „Einige Tafeln sind wie kleine Tante-Emma-Läden organisiert, andere geben vorgepackte Tüten aus. Wobei keiner etwas mitnehmen muss, was er nicht mag.“
Organisatorisch haben die Tafeln nichts mit dem Staat zu tun, und deshalb hat auch niemand einen Anspruch, Lebensmittel von ihnen zu bekommen. In der Regel geben die Einrichtungen Essen an Menschen ab, die staatliche Hilfen bekommen wie Wohngeld, Grundsicherung, Hartz IV. „Aber auch an Aufstocker, bei denen das Geld einfach nicht reicht, um die Familie satt zu bekommen“, sagt Evi Kannemann.
Wer staatliche Unterstützung und die Zahl der in seinem Haushalt lebenden Menschen nachweist, bekommt von den Tafeln einen Ausweis, mit dem er dort einkaufen kann – meistens einmal pro Woche. „Für einen kleinen Einkaufswagen voll mit Lebensmitteln im Wert von etwa 50 Euro bezahlen die Leute zwischen einem und drei Euro. Das legt jede Tafel selber fest“, sagt Hartwig Szymiczek. Diese Einnahmen seien lebenswichtig für die Vereine. Selbst eine kleine Tafel könne schnell monatliche Fixkosten von 5000 Euro haben – für Benzin, Strom, Miete, Versicherungen und Müllentsorgung. „Abfall ist ein großes Thema“, sagt Szymiczek. „Die Tafeln müssen große Mengen Lebensmittel entsorgen, die nicht mehr verwertbar sind, und die entsprechenden Unternehmen lassen sich das gut bezahlen.“ Es wäre schön, sagt der Ehrenamtliche, wenn städtische oder private Entsorgungsbetriebe die Tafeln sponsern würden, „aber das ist noch der Ausnahmefall.“ Auch bei der Kraftfahrzeugsteuer für die Transporter seien Tafeln noch immer nicht Wohlfahrtsverbänden gleichgestellt, die für Hilfsgütertransporte grüne, steuerbefreite Kennzeichen beantragen könnten.
In letzter Zeit drifteten in vielen Städten Angebot und Nachfrage bei den Tafeln auseinander, sagt Petra Jung. Die Lage habe sich nicht nur durch die massive Verteuerung von Lebensmitten verschärft, sondern auch durch die große Zahl der Ukraineflüchtlinge, die von den Tafeln unterstützt würden. „Die Belastung der Ehrenamtlichen ist vielerorts enorm. Manche sind wirklich am Limit.“
In erster Linie geben die Tafeln Gemüse und Obst aus
In erster Linie geben die Tafeln Gemüse und Obst aus, weil der Handel das loswerden möchte, bevor er es selbst teuer entsorgen muss. „Allerdings merken wird, dass die Händler wegen der hohen Gemüsepreise vorsichtiger einkaufen als früher und deshalb auch weniger für uns übrigbleibt. Das war sonst erst immer im Januar, Februar so“, sagt Evi Kannemann.
Während ältere Tafelkunden Gemüse bevorzugten, freuten sich jüngere, wenn es Pizza gebe. „Wagner hat ein großes Herz für die Tafeln und schickt uns manchmal Sattelzüge mit Tiefkühlpizzen“, sagt Evi Kannemann. Auch die dänisch-schwedische Molkereigenossenschaft Arla und Bofrost gehörten zu den großen Unternehmen, die regelmäßig hülfen. Auch Rewe engagiere sich über die reine Abgabe von Lebensmitteln hinaus. „Rewe hat uns Zehn-Euro-Gutscheine zugesagt, die die Tafeln verteilen dürfen.“
Weil große Spendenlieferungen aus der Industrie verteilt werden müssen, gibt es in Nordrhein-Westfalen sieben Regionallager, die die Tafeln um sie herum versorgen. Eines ist in Gütersloh und beliefert von dort die Tafeln in Ostwestfalen-Lippe – manchmal auch mit ganz ungewöhnlichen Waren. Evi Kannemann: „Lego hat uns 200 Paletten versprochen, die noch vor Weihnachten an die Tafeln gehen sollen. Eine tolle Idee, um vielen tausend Kindern eine Freude zu machen.“ie NRW-Tafel-Vorsitzende Evi Kannemann, Schatzmeister Hartwig Szymiczek und Landesverbands-Sprecherin Petra Jung arbeiten ehrenamtlich.
Dem Winter sehen die Tafeln, die von ihren Einnahmen und Geldspenden leben, mit Sorge entgegen. „Die hohen Strom- und Heizkosten sind eine große Belastung“, sagt Hartwig Szymiczek. „Wenn eine Tafel die nicht stemmen kann, muss sie schließen – und davon wären unter Umständen hunderte Familien betroffen.“ Es sei gut, dass Sozialminister Karl-Josef Laumann den Winter über jede Tafel mit 1500 Euro im Monat unterstütze, aber das werde vielerorts nicht reichen. Evi Kannemann: „Die Tafeln freuen sich deshalb über jeden Euro, der gespendet wird. Er hilft Familien und Alleinstehenden, die unsere Hilfe wirklich brauchen.“